SCHUBERTS WINTERREISE – EIN ALBUM FÜR DIE JUGEND

 

Zwei große Liederzyklen hat Schubert der Nachwelt hinterlassen, die Schöne Müllerin und die Winterreise. Die Schöne Müllerin erschließt sich dem Hörer ganz einfach: Recht nachvollziehbar wird hier von einem Müllersburschen erzählt, der auszieht, sich unglücklich verliebt, um nach einer tiefen Krise schließlich Selbstmord zu begehen.

Die Winterreise ist sperriger, musikalisch wie inhaltlich. Eine Handlung ist nur in Ansätzen erkennbar: Ein Mann begibt sich, von seiner Verlobten abgewiesen, auf Wanderschaft. Die Psychologie kennt tatsächlich den Ausdruck „Poriomanie“, die Wandersucht, eine Sucht, als deren musikalischer Ausdeuter par excellence Schubert selbst betrachtet werden kann. Der Zwang zu Wandern, die Unmöglichkeit, auch nur kurz halt zu machen, ist die weltliche Umsetzung dessen, was man laienpsychologisch als „Flucht“ zu bezeichnen pflegt. Der eine flüchtet in Alkohol, Drogen, etc. Der andere flüchtet ganz konkret.

Doch das Flüchten nützt ihm gar nichts – Schuberts Wanderer bleibt in der Zwickmühle stecken. Egal wohin er auch geht, es ändert sich nichts. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ heißt es in „Gute Nacht“. Dieser Stillstand wird in vielen Winterreise-Liedern genial ausgedeutet, am faszinierendsten vielleicht im Lied „Der greise Kopf“: Während der Wanderer vollständig das Zeitgefühl verloren hat und sich fragt, ob er nun jung oder alt ist, hält Schubert die musikalische Zeit an. In diesem alptraumhaften Lied ist so etwas wie Zeit überhaupt nicht mehr vorhanden. Nichts rührt sich. Die Welt ist eingefroren. Dafür findet Wilhelm Müller, der Dichter der Winterreise, eine zentrale Metapher: Wüstenei (in „Der Wegweiser“).

Die Wüstenei breitet sich aus wie das Fieber.

Ein gedämpftes Raunen (das „Rauschen“ des Lindenbaums) füllt alles aus. Man beachte nur die hypnotisierende Wirkung der Klavierschläge in „Gute Nacht“ und „Im Dorfe“, aber auch die schon erwähnten stehenden Tempi in vielen der Lieder. Umso schärfer bedrängen dafür Kleinigkeiten: Irrlichter, eine Wetterfahne, Tiere. Die christliche Mythologie erzählt, wie Jesus sich in die Wüste zurückzieht, dort vom Teufel versucht wird, und diesem trotzt (Mk 1:13). Bei Luther heißt es: und war alda in der Wüsten vierzig tage / und ward versucht von dem Satan/ und war bey den Thieren. „Und war bey den Thieren“ – das Bild von Tieren, denen man in (Eis)Wüsten begegnet, ist uralt und findet sich in vielen Mythen wieder. Die Indianer wählen sich Tiere als geistige Begleiter (vielmehr: die Tiere wählen sich die Indianer).

„Lustig in die Welt hinein, gegen Wind und Wetter; Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter!“ (in „Mut“) In der Genesis ist es ebenfalls ein Tier, welches Eva verführt, wie Gott zu sein: die Schlange. „Ihr werdet sein wie Gott!“ lädt die Schlange ein, von der Frucht der Erkenntnis zu essen. Dieser Übermenschenmythos (sein wie Gott) findet eine weitere Parallele in der schon besprochenen Erzählung von der Wüste: wenn Satan Jesus bedrängt, als Gott zu walten, Herr über Leben und Tod zu sein. Warum die 40 Tage nicht einfach abkürzen? EIN Ziel gibt es selbst in der ziellosesten Wüste und das ist der Tod. Die Abkürzung, die noch der junge Müllersbursche wählte, war der Selbstmord. Auch in der Winterreise bleibt er die ständig lockende Versuchung. Am frapierendsten spricht sich diese im „Lindenbaum“ aus: „Und immer hör ich´s rauschen: Du fändest Ruhe dort!“ Schuberts Kunst, mit Musik zu verführen, wirkt auch in seinem letzten Liederzyklus fort.

Der „Lindenbaum“ ist tatsächlich das klanglich reizvollste, scheinbar zugänglichste Lied der Sammlung, sein süßes Rauschen gleicht dem Rauschen des Flusses in der Schönen Müllerin. Dort brauchte der Müllersbursche nur hinein zu steigen – hier genügt ein Strick.

Im letzten Lied tritt der Tod als Leiermann auf, und der Zyklus endet mit der alles entscheidenden Frage: „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn?“. Ist das nun der letzte „point of return“ oder schon der „point of no return“? Wieder sei auf den Suchtcharakter des „Wanderns“ hingewiesen. Alkoholikern sagt man nach, sie seien von anderen so lange nicht erreichbar (in der „Wüstenei“), bis sie an einen letzten Punkt ankommen – erst hier, wenn überhaupt, lassen sie sich helfen, werden die letzten vorhandenen Überlebensinstinkte mobilisiert.

So gesehen, ist es fast schon ein Hoffnungszeichen, dass der Zyklus nach all den Todeswünschen zaghaft mit einer Frage endet. Denn eine Umkehr wäre nicht nur denkbar, man brächte auch was mit. Jesus ging für 40 Tage nach Innen, bevor er zu lehren anfing; Buddha hungerte unterm Baum, bis er erleuchtet wurde; Schamanen müssen erst lebensbedrohlich erkranken, bevor sie heilen dürfen.

Auch der Wanderer steht an dieser äußersten Grenze. Die 24 Lieder loten mit scharfem Blick alle Einzelheiten dieser Grenze aus, und es ist eine unglaubliche Leistung Schuberts wie Müllers, dass sie den Blick halten, ohne in Sentimentalität zu flüchten. Schubert selbst kehrte nicht mehr wirklich zurück. Er komponierte den Zyklus von Fiebern geschüttert ein Jahr vor seinem Tode, und es ist davon auszugehen, dass er sich im Wanderer selbst wieder gefunden hat. Seinen Freunden fiel sofort die Kargheit der Winterreise-Musik auf; bis auf den Lindenbaum wurde keines der Lieder spontan als schön empfunden. Trotz seines ausgeprägten Sinns für harmonische Farbwirkungen entschied sich Schubert dafür, die Farbskala auf Schwarzweiß zu beschränken. Die Musik erklingt häufig unbegleitet (unisono). Die einstimmigen Linien (siehe auch „Die Wetterfahne“) verklumpen manchmal und verdünnen sich dann wieder – wie Striche auf weißem Papier.

Die Kunst, mit diesen „Strichen“ ganze Winterlandschaften zu zeichnen, kann man vielleicht am besten an dem Lied „Stille Hoffnung“ zeigen. Das Klavier schlägt kleine wilde Hacken; vor dem Hörer erwächst das Bild eines nackten Strauchs, während der Sänger vorträgt: „Hier und da ist an den Bäumen, manches bunte Blatt zu sehn“. Und auch für die einstimmigen Linien findet sich das düsterste Beispiel in dem „der greise Kopf“-Lied, wenn der Wanderer niedersinkend resigniert: „wie weit noch bis zur Bahre“.

„Wie weit noch bis zur Bahre“ ist die zentrale Klage der Sammlung.

Bei der Wiederholung des Wortes „Bahre“ entsteht eine melodische Reibung, die etwas Geräuschhaftes an sich hat, wie überhaupt die Singstimme sich dem Schönsang oft verweigert. Stattdessen schreit sie auf und verschluckt sich wieder („Der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht“ im “Lindenbaum“). Manchmal kommt es fast zum Sprechgesang („Ei Tränen, meine Tränen, und seid ihr gar so lau…“ Gefrorne Tränen). Diese Techniken ragen weit in die Zukunft hinaus. Schönbergs expressionistische Sprechgesangsexperimente sind hier schon vorgedacht.

Noch einmal: die Wüstenei. Das Winterreise-Gefühl ist nicht nur psychologisch und musikalisch zu verorten, sondern auch soziologisch. Das Stück spiegelt die politische Eiszeit der Metternich-Ära wider. Deren Perspektivlosigkeit, der äußere Zwang, der überall Duckmäusertum forderte, trifft auf eine depressive Grundstimmung, die in ihrer spezifischen Ausprägung als jugendlich gedeutet werden kann: „Dass mir´s vor meiner Jugend graut – wie weit noch bis zur Bahre!“ Als würde der Wanderer die Erwachsenenwelt überspringen wollen. Gemeinhin wird angenommen, dass man recht alt sein müsste, um die Winterreise adäquat interpretieren zu können. Dabei waren Schubert und Müller beide erst 30, als sie sich des Themas annahmen – das ist immer noch gutes Rockstaralter! Den literarischen „Wanderer“ muss man sich wahrscheinlich noch viel jünger denken; vielleicht achtzehn, die untreue Verlobte war wahrscheinlich seine erste große Liebe.

Sein Aufbegehren gegen den Stillstand hat etwas Jugendliches, ebenso wie die immer wieder aufflackernde Arroganz („Sind wir selber Götter!“), oder die Suche nach Fundamenten, die im wahrsten Sinne des Wortes „unverwüstlich“ sind („Treue bis zum Grabe!“ in „Die Krähe“). Das Empfinden des Stillstands, das „sich fallen lassen“ und den Fall gleichzeitig glasklar zu reflektieren, das Gefühl, nichts zu spüren, die Arroganz, die schneidende Ironie, eine ungestillte Todessehnsucht, das Meiden der Welt: Diese extremen Grenzerfahrungen gehören gleichzeitig zu jugendlichen Grunderfahrungen. ie können manchmal in Aggressionen umschlagen und bei einigen Jugendlichen zu körperlichen Verweigerungssymptomen führen.

Als Beispiel wäre hier die Magersucht aufgeführt, die oft als eine Reise in die Eiswüste empfunden wird: streng auf den Tod zu, scheinbar klar im Denken, weil vom Körper abgeschnitten, und frierend aufgrund von Nahrungsmittelentzug; als könnte, wer einmal vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, nichts mehr anderes zu essen („ihr werdet sein wie Gott“ sagte die Schlange).

Die Magersucht stellt dem Stillstand der Erwachsenen (die „Schlafenden“ in „Im Dorfe“) den eigenen körperlichen Stillstand entgegen –alles, bloß nicht erwachsen werden. So gesehen lässt sich die Winterreise als eine Art „Album für die Jugend“ deuten – und zwar einer Jugend, die anfällig ist und diesen Anfälligkeiten nachgeht – erwachsen gesprochen: einer Jugend, die ihre Jugend verschwendet.