Warum ist große Kunst oft langweilig?

Weil wir zu schnell leben und zu selten Zeit verschwenden. Letzteres ist richtig schwer und sollte mit Fleiß betrieben werden.

Dass Kultur Dressur ist, wird schnell wieder verdrängt. Niemand erinnert sich gern an Zeiten, als er oder sie von stolzen Eltern ans Klavier geschleift Czerny-Etüden üben musste. Mit Czerny-Etüden fangen alle an, bei Chopin-Etüden hingegen landen nur die Begnadetsten.

Auch sie wurden geschleift und geschliffen, doch zum Vorschein kam dann erstaunlicherweise ein Talent. Bei Nicht-Genies ist Kultur erst recht mit Schweiß verbunden: 1000 Seiten Thomas Mann zu lesen bedeutet Anfängern meist kaum 40 Seiten reines Vergnügen, und eine Wagneroper kommt nur dem kurz vor, der diese Wagneroper schon lang genug kennt. Kunst ist, weil Kunst, eben künstlich und damit unnatürlich. Es ist nicht normal, fünf Stunden lang eine Oper aus vergangenen Jahrhunderten zu hören. Normal ist, dass einem dabei die Beine einschlafen, man die Handlung dürftig findet und die Musik verstaubt; dass man sich unterhalten zu werden wünscht, da man ja schon bei der Arbeit genug gefordert wurde. Doch hier geht es nicht um das Normale. Hier geht es um dessen Gegenteil: den Zauber. Der Zauber der Kunst bleibt immer an Zumutung gebunden und an Zeit: Zeit + Zumutung = Zauber. Ohne ausreichend Zeit zu investieren, bekommen Sie von der Musik nur wenig geschenkt, gleich ob Sie nun Ausübender oder Zuhörer sind.

ZEIT. Zeit + Zumutung = Zauber. Wir wollen uns die kleine Formel etwas genauer anschauen und beginnen mit der Zeit. Jeder Mensch pflegt einen anderen Umgang mit ihr. Einerseits. Andererseits ist unser Zeitbegriff kulturell geprägt und ließe sich in etwa auf diesen Nenner bringen: Du sollst keine Zeit verschwenden. Gib Langeweile keine Chance. Das ist alles gut und schön für ein vernünftiges Arbeitsleben, jedoch nicht für den Umgang mit Kunst, die eine höchst unvernünftige Sache ist. Hier bedarf es in Gegenteil entgegengesetzter Forderungen: Sie haben keine Zeit? Dann nehmen Sie sich welche! Und hüten Sie sich davor, diese zu vernünftig zu gestalten. Gehen Sie mit ihrer Zeit verschwenderisch um! Haben Sie keine Angst, sich zu langweilen.

Denn Langeweile ist etwas, womit alle Kultur beginnt.

Bevor die Menschen sich neue Lieder ausdenken, neue Bilder malen und neue Erfindungen kreieren, müssen sie erstmal durch ein Tal aus Überdruss am Vorhandenen hindurchgehen und dieser Weg kann manchmal ganz schön lange dauern. An und für sich ist der Mensch ja faul. Er will sich nichts selbst ausdenken müssen, er will, dass andere sich für ihn etwas ausdenken. Erzähl mir eine Geschichte! Zeig mir ein YouTube-Video! Spiel mit mir! Eltern mit kleinen Kindern können ein Lied davon singen und sind deshalb schnell dankbar: dem Fußballverein, der Klavierstunde und wenn gar nichts mehr hilft, auch dem Kinderprogramm im Fernsehen (ganz besonders dem Kinderprogramm in Fernsehen…). Doch was passiert, wenn man den quengelnden Monstern einmal nicht nachgibt? Zuerst verwandeln sie sich in Terroristen.

Doch irgendwann beginnen sie sich mit sich selbst zu beschäftigen – und plötzlich fliegen sie auf einem Drachen davon oder lassen sich durch einen Prinzen von einem Drachen erlösen, sofern sie sich nicht selbst zum Drachen verwandeln und ihre kleinen Geschwister auffressen. Mit anderen Worten: Gelangweilte Kinder machen sich irgendwann Gedanken. Gelangweilte Menschen machen sich irgendwann Gedanken. Zuvor jedoch müssen Kinder wie Menschen ihr Verhältnis zu Zeit klären. Jede kreative Zeitverschwendung beginnt mit einer „Zeitbegegnung“– solche Begegnungen werden üblicherweise gern vermieden, wie wir es überhaupt lieber vorziehen, die Zeit als solche gar nicht wahrzunehmen.

Wer zum Beispiel einen zweistündigen Film loben will, der betont, wie schnell die zwei Stunden doch verflogen sind. Nur wenn wir von der Langeweile übermannt werden, lernen wir, wie Zeit wirklich schmeckt. Der Sekundenzeiger rührt sich nicht, nichts aber auch gar nichts passiert und schon tritt sie uns entgegen: bleiern und ohne Gnade, legt sich die Zeit vor uns hin und erdrückt das Herz. Wenn man nichts zu tun hat, kommen sie alle zum Vorschein, die unerfüllten Träume, verpasste Gelegenheiten und tief verborgene Ängste. Man kann sich diese Leere als ein gewaltiges Meer vorzustellen (ein alter Trick der Mystiker), in dem man ertrinken oder aber schwimmen kann. Auch ließe sich die stillstehende Zeit als eine unendlich weite Wüste denken, bei der es egal ist, ob man nach rechts oder links geht, weil es vorerst kein Entkommen gibt.

Doch, und das lernt einen die erste Erfahrung, die man in Wüsten macht: Wenn an Oberflächen Stile herrscht, geschieht tief unten ganz besonders viel. Indem wir also scheinbar Zeit verplempern, arbeitet unser Unbewusstsein umso drängender in uns. Bevor Künstler sich an ein großes Werk wagen, machen sie erst eine ganze Weile scheinbar gar nichts. Währenddessen waltet die Fantasie im Verborgenen und findet neue Wege: durch spontane Eingebungen oder über Träume zum Beispiel. Unsere Augen sehen wie unter Vergrößerungsgläsern, unsere Ohren nehmen feinste Regungen wahr und unsere Fantasie verknüpft diese Eindrücke zu ungeahnten Bildern. Tote Wüsten stecken in Wahrheit voller Leben! Wir müssen uns dieses Leben nur erträumen.

Wenn es also rechts und links kein Entkommen gibt – vielleicht setzen wir uns auf einen Vogel und fliegen davon? Seit Tausenden von Jahren suchten Menschen die Einsamkeit der Klöster, um durch ihre Ängste hindurch diesen „Vogel“ zu finden: den Punkt, an den man losfliegt, um sich selbst, Gott oder dem Teufel (in wechselnden Reihenfolgen) zu begegnen.

ZUMUTUNG. Zeit zu haben ist etwas, was man sich zumuten sollte (viele Leute stopfen selbst ihren Urlaub mit Unternehmungen voll). Langeweile ist etwas, das man sich zumuten sollte. Große Kunst ist ganz bestimmt etwas, das man sich zumuten sollte. Im Gegensatz zur „kleinen“, unterhaltsamen Kunst, scheint sich „große“ Kunst gar nicht um den Betrachter zu kümmern. So fügen viele der Sinfonien Schuberts, Bruckners oder Mahlers Längen aneinander, die beim ersten Hören eine Orientierung fast unmöglich machen. Und es sind nicht nur die Längen; ganz häufig vermeiden diese Werke es geradezu, auf den Punkt zu kommen. Sie verlaufen sich; ähneln Krimis, bei denen der Detektiv in Laufe der Ermittlung seinen Fall vollkommen aus den Augen verliert. Leseanfänger fühlen sich bei solchen Krimis um ihr Lesevergnügen betrogen, Kenner hingegen lassen sich von dieser scheinbaren Langeweile nicht abschrecken und stellen stattdessen ihr inneres Zeitempfinden auf „langsam“ um. Sie wechseln die Perspektive; lesen die Werke mit einer an persönlichen Wüsten erprobten Wahrnehmung.

Mit Augen geschaut, die wie durch Vergrößerungsgläser blicken, mit Ohren gehört, die spitz aufgestellt jede Kleinigkeit wahrnehmen, beginnen Nichtigkeiten zu wachsen und man wird selbst zum Detektiv: Seitenlange Naturbetrachtungen? Werden wie Frauenkörper beschrieben! Wie oft der Dichter doch bei Höhlen und Bergen verweilt… Ein stolzer Hahn, der vor einem kläffenden Hündchen flieht? Der Held des Buches wird sich zum Feigling verwandeln. In welchen Farben kleiden sich eigentlich die Romanpersonen? Der Wüstenblick ist der geschärfte Blick des Adlers. Er nimmt alles wahr, zählt eins und eins zusammen und schwelgt in Analogien, die nichts beweisen und umso mehr bedeuten.

ZAUBER.

Der erste Kontakt mit einem großen Kunstwerk verläuft meist zweischneidig: Oft langweilt man sich zu Beginn, will irgendwann nicht mehr, und wird dann doch durch die eine oder andere Kleinigkeit gefesselt. Der erste Satz des Violinkonzertes von Brahms zum Beispiel gefällt sich über lange Strecken in einer scheinbar trockenen, akademischen Musiksprache, bis plötzlich mittendrin das zweite Thema auftaucht, das zu den schönsten Einfällen des Komponisten gehört. Wie eine Blume in der Wüste wirkt es – beim zweiten Hören merkt man, dass die Blume gerade durch ihre Wüstenumgebung gewinnt; beim dritten bis hundertsten Hören stellen wir verwundert fest, dass wir auf die Blume fast verzichten könnten, weil die vormals langweilige Wüste so unendlich lebendig ist! Die Blume diente nur als Köder. Sie sollte uns in das Stück hineinziehen.

Fast alle Meisterwerke verführen uns auf diese Weise. Ihr Zauber liegt nicht in der Schönheit ihrer Einzelphänomene, sondern darin, dass sie unsere Wahrnehmung VERWANDELN. In Bruckners achter Sinfonie (der nach Celibidache großartigsten Sinfonie aller Zeiten) gibt es ein Finale, das eine halbe Stunde dauert und so zerklüftet wirkt (mal schnell, dann wieder langsam, dann wieder schnell), dass wir meist ziemlich bald innerlich aussteigen. Der Trick besteht nun darin, unsere gewohnte Wahrnehmung auf den Kopf zu stellen und dieses schnelle Finale als einen langsamen Satz zu hören. Die Verwandlung, die sich dann vollzieht, ist unglaublich: Wenn der Zuhörer das Finale als langsamen Satz begreift, gewichtet er dessen Teile neu. Die raschen Stellen werden zu wilden Visionen, die bald vorüberziehen – erst in den langsamen Teilen finden der Satz zu sich und der Zuhörer in den Satz hinein. Zuvor muss dieser Zuhörer aber sämtliche Traditionen ignorieren – so auch die, dass das Finale schnell zu sein habe. Richtig gehört verwandelt sich der zerklüftete Satz in ein stimmiges und höchst eindrucksvolles Gemälde, das von der Überwindung des Todes erzählt. Wie gesagt: Um das zu hören, müssen wir mit unserer Wahrnehmung und unserer inneren Uhr experimentieren. Wie letzteres geht, hat ein jeder in seinem Leben zu Genüge geübt, während er hier und da die Zeit verplemperte.